Text von Uwe Anhäuser, Hunsrück und Naheland, DuMont-Kunst-Reiseführer, 1987



In den letzten Jahrzehnten hat sich Kastellaun mit weitflächigen Neubaugebieten umringt, und auch das alte Zentrum um den Marktplatz verlor durch moderne Umgestaltung sein ehedem harmonisches Gepräge. Trotzdem beherrscht die von der wuchtigen Burgruine und den beiden Kirchen geprägte historische Silhouette noch immer das Gesamtbild. Kommt im bereits 1226 erwähnten Namen das Wehrhafte (Kastell) ausdrücklich zum Vorschein, so reicht die Geschichte des einst befestigten Ortes noch weiter zurück: Sehr wahrscheinlich war Kastellaun schon 820 als ›Trigorium‹ Hauptstadt des Trechirgaues. Seit 1248 hatten hier die Sponheimer Grafen das Sagen und sorgten 1305 für die Verleihung der Stadtrechte. Nach Aussterben des Grafengeschlechts kam Kastellaun als Oberamtssitz an Kurpfalz und Baden. Beim ›großen Hunsrücker Zerstörungs- und Jammertag‹ sank die Stadt in Schutt und Asche (nur 15 Häuser blieben stehen); auch die mächtige Burg wurde dabei zur Ruine. Erst 1968 wurde der Ort wieder zur Stadt erhoben.

Die noch in ihren Resten imposanten Bauten des Palas sowie von Teilen der Ober- und Niederburg (14. Jh.) sind neuerdings gut restauriert worden. So erinnern diese alten Mauern, im bereits erwähnten Zusammenklang mit den Kirchtürmen, wieder lebhaft an die durch Matthäus Merian (1645) und Daniel Meisner im Jahr 1687 im ›Thesaurus philopoliticus‹ (Politische Schatzkästlein) wiedergegebenen (einander sehr ähnlichen) Panoramen des Bezug auf zwei Hasen, die vor der Kulisse im Gras spielen.


Sieh lieber sich unsr Vatterlandt,
Da Ich und Du sein wohl bekandt.
Der Haas gar gen bleib da er vor
geheckt worden, hebts Haupt empor.



Dabei wirkt es so, als hätten sich mit diesen Langohren im Wiesengrund vor der Stadt die gleichfalls abgebildeten beiden Männer recht merkwürdig identifizieren wollen, deren einer mit Blatt, Zeichenfeder und Tuschefass deutlich als Zeichner erkenntlich ist. In der Tat handelt es sich hier um Eberhard Kieser und Sebastian Furck, Söhne Kastellauns, die an Meisners einzigartigem Graphikwerk die wichtigsten Mitarbeiter waren. Und zur abermaligen Bestätigung ihrer Heimatliebe haben sie über die Verdute geschrieben: »Der Haas ist gern, da Er geheckt wardt!« Hasen als alte Symboltiere der Friedfertigkeit; heute gewahrt man drei Kilometer vor der Stadt den Stacheldraht und die Betonschutzmauer der Cruise-Missile-Basis Hasselbach - ein nachdenklich stimmendes Zusammentreffen.

Von weiteren Kastellaunern, die Bedeutendes wirkten, sei noch kurz berichtet: Heinrich Barenbrock war hier von 1563 bis 1573 evangelischer Geistlicher. Er fuhr während dieser Amtszeit viermal nach Essen und hat dort durch seine offenbar gewaltigen Predigten der Reformation zum Durchbruch verholfen. Auch an Friedrich Back erinnert man sich gern, der als Nestor der Hunsrücker Geschichtsschreibung (Pfarrer von Beruf) 1877 von der Heidelberger Universität die Würde eines Ehrendoktors empfing. Während man sich auf seine Forschung bis heute (und auch in diesem Buch ) stets zuverlässig beziehen und ihn mit Fug und Recht zitieren darf, ist der Name Heinrich Zimmer (1850-1920) fast gänzlich in Vergessenheit geraten. Dabei gebührt diesem aus Kastellaun stammenden Gelehrten das erhebliche Verdienst, als Sprachforscher und Verfasser einer gälischen Grammatik der ausgangs des vergangenen Jahrhunderts fast völlig erloschenen keltischen Muttersprache Irlands zur entscheidenden Wiedergeburt verholfen zu haben. Es ist schon tieferen Nachdenkens wert, wenn von Fachgelehrten bestätigt wird, dass durch den aus dem uralten Hunsrücker Keltenland herkommenden Heinrich Zimmer sowohl die heute wieder weltbekannte irische Folklore als auch der ›Ulysses‹ von James Joyce entscheidende Umpulse erfahren haben.

Es gibt - sofern dies hier als Beispiel gelten darf - eben Menschen, die Geschichte machen, ohne dass sie in den einschlägigen Annalen verzeichnet stehen. Welcher Passant - beispielsweise - fühlt sich zum ernsthaften Nachsinnen aufgerufen, wenn er in Kastellaun dem Schild der Friedrich-Back-Straße oder im irischen Dublin demjenigen der Heinrich-Zimmer-Street begegnet?

Dort wie hier rollt heutzutage ohne Unterlass der moderne Straßenverkehr, und deshalb verschweigen auch in Kastellaun die kaum zum Verweilen einladenden Häuserfronten, dass für jeden, der danach sucht, interessante Dinge zu entdecken sind. So wird, wer in die evangelische Kirche hineinschaut, zunächst unter den dem 14./15. Jahrhundert angehörenden Bauteilen (1905-07 nach neugotischer Gepflogenheit restauriert) keine architektonischen Kostbarkeiten bemerken. Doch auf den zweiten Blick ziehen dann doch qualitätsvolle Grabmäler die Aufmerksamkeit auf sich: Gleich neben der Kanzel (1686) ragt die ausgezeichnete Renaissanceplastik vom Grabmal des Karl Buyser (gest. 1537) hervor, und gegenüber steht das zweifigurige Epitaphium des genau 200 Jahre früher verblichenen Grafen Simon II. von Sponheim und seiner Gemahlin Elisabeth. Diesem benachbart ist ein anderes Bildnismonument derselben Zeit für einen namentlich nicht überlieferten Sponheimer, und unter fünf weiteren Grabmälern mit Ornamentzier und Inschrift gehören zwei (1569 und 1574) den aus der Werkstatt Johann von Trarbachs hervorgegangenen Kunstwerken an.

Bescheidener nimmt sich neben der mit solch guten Skulpturen ausgestatteten evangelischen Kirche das katholische Gotteshaus zum hl. Kreuz aus. Dieser neugotische Bau (1899-1902) wurde von dem Kölner Baumeister Eduard Endler in günstiger Lage auf dem Burgfelsen errichtet. Die den spätgotischen Stil trefflich aufgreifende Architektur wird durch eine adäquate Ausstattung bereichert, unter welcher der Schnitzaltar im Chor besondere Beachtung verdient.

Nun könnte man, nach Besichtigung der beiden markanten Sakralgebäude, Kastellaun ohne Umschweife wieder verlassen und hätte dabei das vielleicht Interessanteste doch versäumt: Freilich gibt sich die alte Friedhofskapelle am Berghang gegenüber der Innenstadt auch nicht von fern als Kleinod zu erkennen. Der auf den 1689 ausgebrannten Ruinen im Jahr 1728 errichtete Bau gefällt im Inneren durch Details (z. B. Schnitzereien und Deckengemälde) von derber Bodenständigkeit. Außen beeindruckt ein höchst stimmungsvolles Idyll: ein Kruzifix unter verschiefertem Schutzdach, rustikaler Mauerputz und gusseiserne Grabkreuze mit ihren teils feingliedrig gearbeiteten Ornamenten. Es sind seltene Exemplare einer kunsthandwerklichen Spezialität, die in verschiedenen alten Eisenhütten des Hunsrücks herangebildet worden war.

Die Hänge über der Kastellauner Mulde steigen hinauf zur den Winden ausgesetzten Hochfläche des Beller Marktes, unter dessen altehrwürdigen Baumriesen sich in den letzten Jahren die Friedensmarschierer zu vielen Tausenden versammelten, ohne dass die meisten von ihnen wohl wussten, dass hier schon zur Zeit der Hunsrück-Eifel-Kultur, im späteren Trechirgau, im Mittelalter und noch bis in die jüngere Vergangenheit einer der wichtigsten Treffpunkte für die einheimische Bevölkerung war. Thing oder Hundsgedinge, Halsgericht oder Viehhandelsplatz - von derart durch die geographische Situation vorgegebenen Marktplätzen außerhalb der Siedlungszentren kennt man im Hunsrück ein halbes Dutzend; sie alle haben ihre einst wichtige Funktion als Begegnungsstätten und Handelsforen eigentlich erst im Ablauf der letzten hundert Jahre eingebüßt.

Am Rand des Beller Marktes fristet jetzt ein ›Märchenpark‹ sein kaum auf die alten Mythen gegründetes Dasein, und der ›Friedensacker‹ sein kaum auf die alten Mythen gegründetes Dasein, und der ›Friedensacker‹ gleich gegenüber wurde als Mahnort im Angesicht der atomaren Vernichtungswaffen von einheimischen Friedensfreunden mit 96 Mahnkreuzen bestückt. Drunten gruppiert sich der Ort Bell ausgesprochen harmonisch unter seinem gedrungenen Kirchturm, während die südlich vom Beller Markt, auf Simmern zu, am Külzbach  aufgereihten Dörfer zwischen Hasselbach und Keidelheim bedeutend offener in der wenig gegliederten und im Sommer rundum wiesengrünen Landschaft liegen.

Dieses sanfte Tal, zumal in Anbetracht seiner geographischen Lage, kann man durchaus als Herzstück des Hunsrücks bezeichnen. Alterkülz, Külz, Neuerkirch, Klosterkumbd und Kümbdchen, aber auch die etwas weiter vom Wasserlauf entfernten Hundheim, Wüschheim, Michelbach, Reich, Fronhofen und Nannhausen, teils von mit der Namensprägung beredt auf ihre geschichtliche Vergangenheit zurückweisend, tragen bis heute den Charakterzug jener die spärliche Bandbreite zwischen großbäuerliche Behäbigkeit und tagelöhnerischer Kargheit ausfüllenden Lebensform, die sich hier in Gestalt der landwirtschaftlichen Anwesen deutlich äußerst. Da sieht man zwischen den mit Kunstschieferplatten und Pseudoklinkern verkleideten Häuserfronten noch immer zahlreiche Höfe, die den landesüblichen Typus rein repräsentieren: Unter Walmdächern lückenlos verschieferten Fassaden, die Wohnhäuser meist rechtwinklig zum Wirtschaftsteil angeordnet. Wetter- oder Schleppdächer kragen vor; der Misthaufen ist säuberlich am Straßenrand aufgeschichtet, und ihm Hintergrund, bachabwärts geneigt, erblickt man die von Obstbäumen bestandene Hauswiese, die sogenannte ›Blitz‹. Die Erdgeschosse bestehen in der Regel aus massivem Mauerwerk (vor allem die Küchenräume, aufgrund der Brandgefährdung, verlangten nach steinernen Wänden), während sich unter den Layden der Obergeschosse Fachwerk verbirgt.

Hübsche Fachwerkbauten sind auch oft die Rat- oder Gemeindehäuser, und als genauso charakteristisch für die Gegend erblickt man hier und da noch ein kommunales Backhaus. Die Kirchen von Neuerkirch (13./18. Jh.) und Alterkülz (18. Jh.; Stumm-Orgel 1779) verstärken als rustikal-kompakte Monumente den überall sichtbaren Eindruck einer auf die bäuerliche Abhängigkeit vom nährenden Boden tief gegründeten zuversichtlichen Lebens- und Glaubenshaltung. Die jüngste Zeit hat zwar auch hier Risse und Sprünge eingekerbt, doch in der Anlage und immer wieder bis ins Detail zeigen die alten Bauwerke unverkennbar die Elemente und Ideale landwirtschaftlichen Besitzerstolzes vor. Dabei ist, wiewohl es sich großenteils um noch weit ältere Architekturen handelt, als ideeller Grundzug des in ansehnlichen Höfen dokumentierten bäuerlichen Selbstbewusstseins stets auch jener epochale Wandel mit zu bedenken, der spätestens zur ›Franzosenzeit‹ aus leibeigenen Untertanen freie Bürger und Grundeigentümer werden ließ.